Der Corona-Effekt: der exzessive Gebrauch digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen (Teil 1)

Marianne macht sich seit einiger Zeit Sorgen um ihren 14-jährigen Sohn Axel. Er war schon seit einigen Jahren viel am Computer, aber seit dem Lockdown hat sich sein Gebrauch fast verdoppelt, vor allem am Wochenende ist er pro Tag mindestens 6 Stunden am Computer. Er verbringt sehr viel Zeit auf seinem Zimmer, manchmal hört sie ihn mit Freunden sprechen, auch lachen, manchmal aber bricht er auch in ungehaltene Wutausbrüche aus, wenn er bei einem Spiel verloren hat. Zum Abendessen kommt er nur kurz runter in die Küche, um danach sofort wieder hochzugehen, um weiterzuspielen. Oft hatte sie schon versucht einzugreifen, auch einmal Computer oder Handy konfisziert. Aber schnell ist Axel danach wieder in den gleichen Modus reingerutscht, in dem er nonstop im Internet war. Trotz überdurchschnittlicher Intelligenz sind seine Noten seit mehreren Monaten nur mittelmäßig. Er hat im April 2021 eine Aufnahmeprüfung für ein bilinguales Lycée, das er gerne mit seinen Freunden zusammen besuchen möchte. Marianne verzweifelt, denn sie weiß nicht, wie sie Axel dazu bringen soll, statt Zeit vor dem Computer zu verbringen, sich eher auf die Prüfung und seine Hausaufgaben zu konzentrieren.

Nach fast einem Jahr der Coronakrise beobachten Eltern weltweit etwas hilflos, wie ihre Kinder und Jugendlichen immer mehr in ein digitales Leben abrutschen. Studien zeigen, dass sich der vorher schon recht hohe Gebrauch von digitalen Medien bei Kindern und Jugendlichen seit Mai 2020 verdoppelt hat. Welchen Einfluss hat dies auf unsere Kinder und Jugendlichen? Welche Risiken und Folgen? Ist er normal? Ist es das „new normal“ der Generation unserer Kinder? Kann man diese lieb gewonnenen Angewohnheiten wieder rückgängig machen? Geht der starke Gebrauch von alleine zurück, wenn das „normale Leben“ wieder möglich ist? Müsste man vielleicht mehr eingreifen und wenn ja wie? Wo die Grenze setzen?

Wenn man selbst damit beschäftigt ist, Homeoffice, Familienleben, Haushalt, Hausaufgaben unter einen Hut zu bekommen und außerschulische Aktivitäten und Kontakt zu Freunden sehr eingeschränkt sind, erscheint das Durchsetzen eines gemäßigteren Gebrauchs der Computer viel schwieriger.

„Am liebsten wäre mir natürlich auch, wenn unsere Kinder nur 30 Minuten am Tag auf dem Handy und Computer sind und die restliche Zeit Puzzle legen, lesen, miteinander „Mensch ärgere dich nicht“ spielen, im Wald Kastanien sammeln, schnitzen, stricken und malen würden. Aber das würde wahrscheinlich nicht geschehen, zumindest nicht, wenn ich mich nicht selbst darum kümmern würde. Ich müsste viel mehr Zeit mit ihnen verbringen, damit sie sich entsprechend gut beschäftigen. Und genau dafür habe ich im Moment nicht die Zeit und Energie“, sagt Natascha, Mutter von 3 Kindern (5, 9 und 12 Jahre) und seit März letzten Jahres im Homeoffice als Salesmanagerin bei SAP.

Eine amerikanische Studie, die Kinder während des Lockdowns der Schulen, Spielplätze, Freizeitaktivitäten und Homeoffice der Eltern in den USA begleitet und ihr mentales Empfinden in der Zeit erhoben hat, zeigt, dass sich viele der Kinder auf sich selbst gestellt, „lonely“, also einsam, gefühlt haben und dass die Traurigkeit der Kinder in der Zeit zugenommen hat.

Soziale Distanzierung und Lockdown führten zu Bedingungen, die nicht optimal für die Familien waren. Kinder konnten nicht ihrem natürlichen Bewegungs- und Spieldrang nachgehen. Die Eltern mussten gleichzeitig Homeschooling und beruflich neuen Herausforderungen gerecht werden. Was zuerst eine überschaubare Ausnahmesituation war, die auch Vorteile bot, ist inzwischen ein sehr einschränkender Dauerzustand geworden, zumindest für absehbare Zeit.

Eltern ließen mit gemischten Gefühlen und mit Bedenken zu, dass ihre Kinder unzählige Stunden mit Spielen auf Roblox, Fortnight und auf Snapchat verbrachten. Welchen Einfluss hat dies auf unsere Kinder und Jugendlichen? Welche Risiken und Folgen?

Auch Wissenschaftler beobachten mit steigender Sorge den sogenannten „Corona-Effekt“: eine durch die Coronakrise verursachte „digitale Überbenutzung“ der Medien durch Kinder und Jugendliche. Studien verzeichnen besorgniserregende Verhaltensveränderungen, neuronale und emotionale negative Auswirkungen eines exzessiven Gebrauchs:

Bei Kleinkindern (0 bis 3 Jahre) zeigen viele Studien eine verlangsamte bzw. rückläufige Sprachentwicklung, die durch den hohen Gebrauch von digitalen Spielen oder das Anschauen von Zeichentrickfilmen verursacht werden kann, selbst wenn die Sendungen speziell für Kleinkinder entwickelt worden sind.

Bei Kindern im Alter von 4 bis 11 Jahren haben verschiedene Studien einen Zusammenhang von starker Benutzung von digitalen Medien und dem gesteigerten Auftreten von Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit, einem hohen Risiko für Kurzsichtigkeit, Einschlafstörungen, Obesität und einem vermehrten Auftreten der ADHS-Störungen nachgewiesen. Kinder, die mehr als eine halbe Stunde am Tag auf dem Computer und Handy spielen, verarbeiten Informationen oberflächlicher als Kinder, die nur eine halbe Stunde pro Tag spielen. Andere Studien zeigen allerdings auch, dass bestimmte Fähigkeiten durch die Spiele bei den Kindern gezielt trainiert werden, wie z. B. strategisches Denken, räumliche Orientierung, die Fähigkeit, komplexe Informationen schnell erfassen und kategorisieren zu können, sowie eventuell eine gesteigerte Anpassungsfähigkeit an sich schnell verändernde und unvorhersehbare Situationen.

Untersuchungen des Early Learning Project (ELP) der Georgetown University zeigen jedoch, dass den Kindern ein Wissenstransfer der am Computer gelernten Kompetenzen in die reale Welt kaum gelingt. Untersuchungen dieses ELP-Programms zeigen, dass dies nur mit der Unterstützung eines Erwachsenen (Eltern/Lehrer) möglich ist. Generell zeigen sie, dass es sehr schwierig für Kinder ist, alleine am Computer mit Lernspielen wirklich zu lernen.

Das kindliche Gehirn braucht das taktile Manipulieren von Gegenständen, um Zusammenhänge zu „begreifen“ und Wissensstrukturen aufzubauen. Körperliche Bewegung ist zum Beispiel wichtig, damit sie ihren Körper besser beherrschen und sich ein inneres Körperbild aufbauen können. Bei 6-jährigen Kindern, die viel (2 Stunden pro Tag) vor Bildschirmen sind, fallen beim Zeichnen von Strichmännchen diese viel „ärmer“ und rudimentärer aus als bei Kindern, die maximal eine halbe Stunde mit digitalen Medien verbringen.

Der Unterschied zwischen einem Spiel, das Kinder z. B. auf der App Roblox spielen, und dem Spiel mit Legos, Kapla, Puppen, Playmobil ist, dass sie ihrem eigenen Tempo folgen können, Zeit zum Überlegen haben, die Gedanken schweifen lassen können, eigene Szenarien entwickeln, Initiative ergreifen und neue Ideen entwickeln. Wenn sie genug gespielt haben, können sie aufhören und sich mit etwas anderem beschäftigen. Die Spiele in den Apps sind darauf angelegt, permanent die Aufmerksamkeit der Kinder einzufangen, mit immer neuen Finessen überraschende, interessante und faszinierende Unterhaltung zu bieten, ob mit süßen Tieren, lustigen Effekten, vielen Belohnungen oder dem Gefühl, immer mehr zu erreichen, Herausforderungen zu bewältigen, immer reicher zu sein. Da kann das „Offline-Spielen“ den Kindern schließlich langsam, öde und etwas langweilig vorkommen. Je länger die Kinder in den Apps aktiv sind, desto mehr Informationen können diese Apps über ihre Reaktionen und Vorlieben erfassen, auswerten, speichern und eventuell nutzen.

Bei Jugendlichen (13 bis 18 Jahre) geht es neben den Computerspielen, die vor allem bei Jungs sehr beliebt sind, viel stärker um soziale Netzwerke wie Instagram, TikTok, Snapchat und WhatsApp. Wie bei den Spielen der Kinder löst die Benutzung der Apps Wohlgefühle, Neugierde, Stimulanz aus, was zur Ausschüttung von Dopamin (Glückshormon) führt und wiederum wie bei Alkohol, Nikotin und anderen Substanzen schnell zu Abhängigkeiten führt. Und das ist auch die Absicht der „Attention Engineers“, eigens dazu angestellte, spezialisierte Psychologen, die zum Ziel haben, die Apps so verführerisch und abhängig machend wie möglich zu gestalten. Neue Algorithmen von TikTok und YouTube zum Beispiel können anhand der gesammelten Daten spezifische, auf den Benutzer abgestimmte Inhalte anbieten, die ihn dazu verleiten, sich immer neue Videos anzuschauen.

Aber auch hier zeigen Untersuchungen mögliche negative Folgen der intensiven Benutzung dieser Apps, vor allem für die mentale Gesundheit, und worauf hierbei geachtet werden muss:

Das häufige Nachsehen, wer was gepostet hat, unterbricht permanent das eigene Denken und macht es oberflächlicher. Schon allein die Präsenz eines Handys, so eine Studie der New York Times, führt bei einem Gespräch mit einer anderen Person dazu, dass dieses Gespräch nicht die Tiefe bekommt, die es ohne Handy bekommen hätte, da man unbewusst immer „abrufbereit“ ist.

Ein „Sich-verstanden-fühlen“ ist es, wonach sich viele Jugendliche sehnen. 80 % geben an, sich einsam zu fühlen. Die sozialen Netzwerke sprechen dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit an. Sie geben darüber hinaus die Möglichkeit, in einer Phase, in der es einem Jugendlichen wichtig ist, gesehen zu werden, sich darzustellen, seine Identität eventuell neu zu definieren und Feedback von Gleichaltrigen zu bekommen. Gleichzeitig machen sie Jugendliche hierbei auch extrem verletzbar, wenn Kritik, negative Urteile oder sogar Kränkungen auf sie zurückkommen.

Je mehr Jugendliche z. B. Instagram benutzen, desto mehr fehlt ihnen der kritische Abstand zu dieser Scheinwelt und desto eher erscheint ihnen diese in den Fotos präsentierte Welt als real. Bei Werbung und Hochglanzmagazinen weiß man im Allgemeinen, dass es sich um retuschierte und vom Fotografen ins rechte Licht gerückte Motive handelt. Gefährlich „glaubwürdig“ und „natürlich“ erscheinen die perfekt aussehenden Fotos auf Instagram. Der große Erfolg von Instagram geht gerade auf die Tatsache zurück, dass die Gründer besondere Fotofilter und Fotobearbeitungstools in der App anbieten, die fast jedes Foto gut aussehen lassen.

Jedoch entsteht neben dem angenehmen Gefühl, die einem diese perfekte Welt vermittelt, in den meisten Fällen unweigerlich auch ein Vergleich mit der eigenen Situation, dem eigenen Körper, den eigenen finanziellen Verhältnissen. Dies führt, manchmal erst im Nachhinein, bei vielen Jugendlichen zu einem Gefühl der tiefen Unzufriedenheit – Insuffizienzgefühle bis hin zu Selbstkritik und Selbstgeringschätzung („Die anderen schaffen, haben, können so viel mehr als ich“) sowie Versagensgefühle sind bei einigen jungen Leuten die Konsequenz, die in einigen Fällen zu Antriebslosigkeit, Mutlosigkeit und psychiatrischen Störungen (Depressionen, Essstörungen, Ängste) führen können.

Natalie Hissen

In Teil 2, „Vom Corona-Effekt zum gesunden Umgang mit digitalen Medien“, den Sie in der nächsten Brücke-Ausgabe lesen können, geht es darum, wie Kinder der „Generation Z“ (nach 1997 geboren) – unsere „digital natives“ – lernen können, gesünder mit den digitalen Medien umzugehen. Konkrete Lösungsansätze und praktische Tipps werden vorgestellt und es wird gezeigt, wie Marianne zusammen mit ihrem Mann Axel die Benutzung der digitalen Medien auf ein erträgliches Minimum einschränken konnte und welche positiven Folgen dies hatte.

Nathalie Hissen ist Diplompsychologin und arbeitet seit über 20 Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als Einzel- und Familientherapeutin. Sie bietet aktuell Webinare und Einzelcoaching für Eltern zum gesunden Umgang der Kinder und Jugendlichen mit digitalen Medien an.