Die Kraft der guten Gefühle in Zeiten der Coronakrise

„Wir haben ja Glück, dass wir ein Haus mit Garten haben“, „Gott sei Dank ist die ganze Zeit schönes Wetter“, „Ich bin froh, dass ich mein volles Gehalt bekomme“, „Zum Glück gibt es Internet, darüber können wir in Kontakt bleiben“ … während des „Lockdowns“ haben Freunde, Kollegen, Bekannte um mich herum immer wieder ihre Dankbarkeit für Dinge ausgedrückt, denen sie wahrscheinlich in „normalen Zeiten“ keine so große Bedeutung geschenkt hätten. In Zeiten der fast totalen Einschränkung ist so viel Dankbarkeit schon etwas verwunderlich. Als ob im Angesicht der Ausnahmesituation der bedrohlichen Coronakrise die alltägliche Normalität (ein Garten, ein Gehalt, Internet) erneute Wertschätzung findet. Über das, was man nicht mehr hatte (ein Sozialleben, Reisen, Konzerte, Kinos, Restaurants, Geschäfte etc.) wurde erstaunlich wenig geklagt. Prioritäten, Werte wurden in ein neues Licht gerückt. Man erfreute sich auf einmal einer guten Gesundheit und wollte diese auch besonders pflegen. Online-Fitness-Kurse hatten sich noch nie einer so großen Beliebtheit erfreut. Sah man zufällig eine Freundin beim Einkaufen und konnte man ein paar Worte mit ihr austauschen, schätzte man sich glücklich, da das ja eher die Ausnahme war.

Jedes Mal, wenn die eigenen Eltern anriefen und sagten, es ginge ihnen gut, atmete man auf. Für die Familie Essen eingekauft zu haben, erfüllte einen fast mit einem gewissen Stolz: „Überleben gesichert. Mission accomplished!“. Während des Lockdowns hätten Geschwister erstmals viel miteinander gespielt, erzählten mir Eltern. Sie selbst hätten sich auch mehr und anders mit ihren Kindern engagiert, Verstecken gespielt zum Beispiel, oder sind mit ihren Kindern aufs Trampolin gegangen, was sie noch nie zuvor gemacht haben. Und sie strahlten, als sie mir das erzählten, es schien ihnen Spaß gemacht zu haben. Als sich die Ereignisse überschlugen, sagte mir eine Freundin, dass sie es komplett aufgegeben habe, die Dinge noch kontrollieren zu wollen. Sie ließe jetzt alles einfach auf sich zukommen und habe sich noch nie so gut damit gefühlt … Könnte es sein, dass dieser Corona-Ausnahmezustand sogar zu vermehrten guten Gefühlen bei vielen geführt hat?

Gute Emotionen sind angenehm, umhüllen uns mit einem wunderbaren, erfrischenden und wohltuenden Gefühl, sie entspannen uns, geben uns Elan, Kraft, Mut, Hoffnung, kurz: sie verleihen uns Flügel. Sie öffnen uns für andere und erweitern unseren Horizont. Dank ihnen entkommt man der Enge der geistigen Negativität, dank ihnen können wir uns von Sorgen und Grübeleien befreien und können wir zuversichtlich, gütig und großzügig sein.

In Zeiten von großen Veränderungen und Krisen helfen sie uns, eher die Chancen als die Risiken zu sehen. Eher die Möglichkeiten und Bereicherungen als die Gefahren und Einschränkungen.

Als Corona über uns hereinbrach, standen kurzfristig Gefühle der Angst, der Beklemmung und Verunsicherung im Vordergrund. Aber nach den ersten ein, zwei Wochen der Umstellung entdeckten viele die positiven Seiten des Lockdowns: mehr Zeit für sich selbst und die Familie, kein morgendlicher Stress wegen Arbeit und Schule, eine Vereinfachung des Lebensstils, da kaum Bewegungsmöglichkeit und radikale Einschränkung des Freizeit- und Soziallebens. Man konnte sich getrost dieser neuen, von oben angeordneten Einschränkung der Möglichkeiten fügen, denn sie war ja für alle gleich und das Vernünftigste war, das Beste daraus zu machen. Emsigkeit, Produktivität und Profitsteigerung waren auf einmal nicht mehr das Wichtigste. France Culture sendete einen Beitrag darüber, wie man sich von der Prämisse, diese Zeit produktiv zu nutzen, befreien und den Fokus woanders legen sollte. Wir hatten nicht mehr die gleichen Sorgen. Es war ein Umbruch ohnegleichen. In dem Verlust des vorherigen normalen Alltagslebens lag auch ein Gefühl der Befreiung, ähnlich wie bei Ferien und doch ganz anders. Es brach über uns alle ein neues Leben ein, das, weil es generell und global war, ein starkes Gefühl der Verbundenheit schaffte. Der gemeinsame Nenner Covid-19 war weltweit und kulturübergreifend Gesprächseinstieg und Anlass, sich miteinander auszutauschen. Die mitfühlende Nachfrage nach dem persönlichen Wohlbefinden und Gesundheitszustand der Familie, die keine Floskel war, kreierte mehr menschliche Wärme. Die üblichen zwischenmenschlichen Animositäten, Rivalitäten und Spannungen traten in den Hintergrund.

Vielleicht werden wir rückblickend sagen, dass für einige von uns die Zeit der Coronakrise eigentlich mit vielen guten Emotionen verbunden war. Wenn dem wirklich so wäre, dann würden Psychologen und Soziologen sagen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass diese Krise nicht eine Regression eingeleitet, sondern uns eher auf ein höheres Bewusstseinsniveau gehoben hat. Eine Krise von solchem Ausmaß hat immer das Potenzial, eine Abwärts- oder Aufwärtsspirale, eine Regression oder Progression auszulösen. Sowohl beim einzelnen Individuum als auch bei größeren Gruppen und Gesellschaften. Sie kann Anlass für Weiterentwicklung, Motor für Neuentwicklung und Auslöser für das Erlernen von besseren, effektiveren Strategien sein. Sie kann aber auch Ängste schüren, zu Pessimismus und Schwarzmalerei führen und lähmend, verunsichernd oder gar destruktiv auf ganze Gesellschaften wirken.

Interessant in diesem Zusammenhang sind Studien, die zeigen, was es braucht, damit man an Krisen eher wächst als zerbricht. Eine gewisse Sicherheit und ein Gefühl, über Ressourcen (innere und äußere) zu verfügen, eine solide Basis von Resilienz scheinen wichtig. Es gibt besonders faszinierende Studien, die unabhängig voneinander zeigen, dass es ein bestimmtes, immer gleichbleibendes Verhältnis zwischen der Anzahl guter und negativer Gefühle gibt, das entscheidet, ob man langfristig erfolgreich, produktiv und mit Krisen gut umgehen kann oder nicht. Psychologische Studien von Arbeitsteams (Losada, M. 1999), von Ehepaaren (siehe Studien von John Gottman) und von Einzelpersonen (B. Fredrickson) haben alle unabhängig und einstimmig gezeigt, dass es ein Verhältnis oder einen Quotienten von 3:1 von guten zu negativen Emotionen geben muss, damit die Spirale sich nach oben bewegt. Das heißt, dass wenn 3-mal mehr „positive“ Interaktionen (mit guten Gefühlen) z.B. innerhalb eines Teams stattfinden, ist die Arbeitsmoral insgesamt positiv und produktiv. Gibt es „nur“ genauso viele negative wie positive Interaktionen (2:2), z.B. zwischen Eheleuten, „dümpelt“ die Ehe so dahin. Wenn eine Person einen guten Gedanken, aber im Verhältnis dazu drei negative hat, dann befindet sie sich in einer Depression … das heißt, dass die Auswirkungen guter Gefühle nicht linear erfolgen. Negative Gefühle wiegen zunächst schwerer als gute Gedanken und Interaktionen. Und das egal, ob bei der Arbeit, für sich allein oder in einer Zweierbeziehung. Sobald aber der sogenannte „Tipping-Point“*, der „Umkipp-Punkt“, von 3:1 überschritten ist, d.h. es mindestens 3-mal so viel gute Gefühle/Interaktionen gibt wie negative, hat jedes weitere auch noch so kleine gute Gefühl große, unproportional hohe Auswirkungen auf unser Befinden und man läuft regelrecht zu Höchstform auf. Ähnlich wie mit der dramatisch schnellen Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie, ist jedes weitere gute Gefühl extrem „ansteckend“ und führt zu einer Lawine von mehr Energie, guter Laune und Unternehmensdrang: dieser hochmotivierte Geisteszustand erlaubt es, mit Veränderungen leichter fertig zu werden, mitfühlender mit anderen zu sein, sich besser abstimmen zu können, sich immer wieder neu zu erfinden, Herausforderungen angstfreier anzunehmen, Vertrauen in die Zukunft zu haben, bessere Entscheidungen zu treffen, komplexere Sachverhalte besser zu erfassen, mit Frustrationen besser umgehen zu können etc…

Die Frage stellt sich natürlich, wie man mit oder ohne Coronakrise die guten Gefühle so weit vermehren kann, dass man über den „Tipping-Point“ kommt, um von diesem Aufwind profitieren zu können? Bewusst sich über die Vorteile, die man hat, zu freuen, dankbar zu sein z.B. für die Zeit, die man nicht in Metro und RER verbringen muss, Wertschätzung auszusprechen für die, die weiterhin arbeiten (Altenpfleger, Müllarbeiter, Lastwagenfahrer, Kassierer) und dafür sorgen, dass das ganze System nicht zusammenbricht, sind Ansätze, die wir aus der Coronakrise mitnehmen können. Wir könnten auch diese Zeit der großen Entschleunigung nutzen, um den Quotienten aus guten/negativen Gefühlen zu verbessern und auf über 3:1 zu erhöhen, für uns selbst und für unsere Kinder. Lernen, auch besser mit negativen Gefühlen umzugehen und täglich unseren inneren Tank an positiven Gefühlen allen voran der Liebe, des Fröhlichseins, der Dankbarkeit immer wieder neu aufzufüllen … so könnten wir gestärkt aus der Krise herauskommen mit neuen, wertvollen Gewohnheiten und Fähigkeiten, die uns auch noch bewahrt bleiben, wenn die Hektik und der Druck des „neuen normalen Alltags“ uns wieder einholt. Wir könnten so bewusst die Aufwärtsspirale wählen, die uns alle in eine bessere Zukunft führt – trotz oder wegen Corona.

Natalie Hissen

* Die Theorie des „Tipping-Points“ geht auf Recherchen von Malcolm Gladwell (2000) zurück, der immer wieder dieses Phänomen beschrieb, das zuerst anhand von Virus-Epidemien beobachtet worden war, aber dann auch als typisches Muster bei anderen ungewöhnlichen Entwicklungen auftrat, z.B. bei plötzlichen Modetrends oder einem ungewöhnlichen Anstieg oder Rückgang von Gewaltverbrechen.

Natalie Hissen ist klinische Diplompsychologin und arbeitet seit über 20 Jahren in Kinderpsychatrien und Beratungszentren als Kinder- und Familientherapeutin. Sie hat sich in den letzten Jahren auf Emotionen spezialisiert und Werkzeuge, Strategien und Kurse für Eltern entwickelt, die helfen, mit eigenen Emotionen sowie der ihrer Kinder besser umzugehen. Ihre erklärte Mission dabei ist es, die angenehmen Gefühle anhaltend und weit über den Tipping-Point zu erhöhen.